Ich bin angefressen und werde unruhig. Wann kommt endlich mein Ersatzpass?
Ein Anruf beim Konsulat bestätigt das Vorhergesagte. Ja, die Feiertage. Ja, der Pass kommt aus Rio. Er wird Montag oder Dienstag kommen.
Das wäre wunderbar. Dann könnte ich am Mittwoch das Schiff nach Tabatinga nehmen, fünf bis sechs Tage später dort ankommen, eine Nacht in der kolumbianischen Grenzstadt Letizia schlafen und dann sofort nach Iquitos (Peru) weiterfahren.
Das ist alles Zukunftsmusik. Noch bin ich in Manaus und habe daraus das beste für mich zu machen.
Gestern habe ich einen Busausflug nach Ponte Negra gemacht. May hat mir auf der Karte die Haltestelle eingezeichnet und natürlich auch die beiden in Frage kommenden Busnummern.
Ich brauche nicht lange zu warten bis der Bus angeklappert kommt. Die erste Strecke ist mir bekannt, ich bin so viel zu Fuß unterwegs! Dann wird es neu und eine Weile später interessant. Ein Hochhaus Park. Ich nenne ihn so im Vergleich zum Windpark. Hier gehören etliche Hochhäuser zu einer eleganten, sicher teuren Siedlung. Eine Mall ist ist nicht weit entfernt. An den Seiten wird Werbung gemacht für alle auch in Europa beliebten Shops. Ich nenne als Beispiel Zara. Wenn die Mall "Ponte Negra" heißt, kann mein Ziel nicht mehr ganz weit sein.
Ein Kreisel kommt. Der Bus biegt ab, donnert über eine gut ausgebaute Straße, um nach einigen Kilometern plötzlich abzubiegen. Er fährt durch einen Vorort, der mich etwas an gelesene Geschichten über Goldgräberstädte erinnert. Noch nichts ist fertig. Straßen haben tiefe Löcher, die der Fahrer rasant durchfährt, um für mich überraschend, im rechten Winkel abzubiegen. Mein Haltegriff wird gut genutzt! Ich bin eigentlich verwundert, dass es mich noch nicht aus dem Sitz gerissen hat!
Ich stelle fest, dass ich die letzte bin, außer einem Passagier. Er fragt mich, wohin ich möchte. Ich vermute jedenfalls, dass er mich das fragt. Ich verstehe ihn nicht. Meine Antwort: "Ponte Negra" bringt ihn dazu, den Fahrer anzusprechen. Der Bus hält. Ich sehe viele Busse, alle in der gleichen Farbe. Hier ist Endstation.
Mein neuer Freund zeigt mir durch Gesten, dass ich ihm folgen soll. Wir steigen über Steine und Betonbrocken auf einen Hügel, auf dem sich eine Terrasse befindet. Mindestens 10 Männer und Frauen sitzen an einem Tisch und trinken Kaffee oder Wasser.
Es entsteht eine lebhafte Unterhaltung. Ich bekomme kaltes Wasser gereicht. Dann kommt noch einmal die Frage nach "Ponta Negra", gefolgt von dem Vorschlag "Teatro do Amazonas". Ich nicke jedes mal und versuche zu erklären, dass ich erst nach Ponte Negra und dann zum Teatro do Amazonas möchte.
Meine Pause ist beendet. Derjenige, der mich hierher geführt hat zeigt, dass ich einer jungen Frau folgen soll. Mein Wasser nehme ich mit. Wir steigen in einen der Busse. Nach einem kurzen Moment kommt ein Fahrer und los geht die Reise. Ach ja, mein letzter Fahrer steigt auch zu. Er setzt sich neben mich und fragt noch einmal: "Ponta Negra"? Auf mein "si" hin, fordert er mich auf, mit ihm an der nächsten Haltestelle auszusteigen und dort auf einen anderen Bus zu warten. Dann zeigt er mir auf der anderen Straßenseite sein Haus, aus dem gerade seine Tochter kommt. Wir unterhalten uns über die Zahl unserer Kinder. Da kann ich leicht mitmachen, vier Finger zu zeigen ist eine meiner leichtesten Übungen! Er wartet bis mein Bus kommt, ruft dem Fahrer "Ponte Negro" zu, winkt mir und geht nach Hause. Danke.
Warum erzähle ich diese Geschichte, die eigentlich keine ist?
Ich reise ohne die Sprache dieses Landes zu kennen. Ich begebe mich auf einen Weg, wo ich auf Hilfe angewiesen bin. Und das Tolle ist, ich bekomme Hilfe, Mitmenschlichkeit, Zuwendung aus Quellen, mit denen ich nicht rechne. Mein deutscher Konsul in seinem eleganten Geschäft bietet meinem Begleiter und mir nicht einen Tropfen Wasser an! Aber Brasilianer auf der Straße, im Bus, in Geschäften, in Museen, wo auch immer ich ihnen begegne, versuchen mich zu unterstützen. Neujahr nimmt mich eine Frau im Museum in den Arm und wünscht mir sicher alles Gute für 2018. Ich kenne sie nicht, werde sie nie wiedersehen, aber sie schenkt mir Herzlichkeit. Und darum habe ich diese Geschichte, die keine ist, erzählt. Ich möchte sie nie vergessen.
Wie richtig vermutet, erreiche ich Ponte Negra. Es ist ein Strand am Rio Negro mit allem was in Brasilien zu einem Strand gehört: Bierverkauf, Tische, Stühle, Sonnenschirme, Käseverkäufer, Familien, Hunde, die sich unter Stühlen einbuddeln, im Wasser tobende Kinder und weißer Sand.
Ich genieße mein Leben am Tisch einer fremden Familie, trinke meine Flasche Wasser leer, lese und fahre kurz vor Einbruch der Dunkelheit zurück Richtung "Teatro do Amazonas".
Morgen komme ich wieder!
Der Strand "Ponte Negra" mit der Brücke im Hintergrund.